Vortrag von Stefan Weser
Erbitterter Streit um das neue deutsche Gesangbuch
Als der Kirchengesang die Hallgartener entzweite:
Verein „Weindorf Hallgarten“ stellte neues Geschichtsheft vor
Überaus groß war das Interesse am Freitag, 19.04.2024 im Saal des Pfarrhofs Mariae Himmelfahrt. Rund 60 Gäste, fast ausnahmslos Hallgartener Bürger, waren gekommen, weil sich der Referent des Abends, Stefan Weser, der auch selbst Vorsitzender des Vereins „Weindorf Hallgarten" ist, einem erbitterten Streit aus dem Jahr 1813 widmete: der Gottesdienst mit dem neuen deutschen Gesangbuch entzweite damals in Hallgarten wie auch in anderen Gemeinden des Rheingaus die Kirchgänger.
„Die kirchliche Obrigkeit in Gestalt des Mainzer Erzbischofs hatte damals versucht, den Hallgartenern etwas aufzuzwingen“, erläuterte Stefan Weser im Pfarrhof Mariae Himmelfahrt.
Und so nahm er die aufmerksamen Zuhörer mit auf eine Zeitreise ins Jahr 1813: „Der Hallgartener Schultheiß Martin Bohn berichtet an die Nassauisch-Herzogliche Regierung in Wiesbaden über „die Unruhe in dem hiesigen Ort gegen den deutschen Gottesdienst betreffend“. Die Bürger Franz Stettler, Valentin Kempenich und Jacob Söngen hätten trotz aller Warnungen, sich ruhig zu verhalten, die dem deutschen Gesang Gutgesinnten bedroht und sie genötigt, eine von Conrad Bug verfasste „Schmähschrift“ zu unterzeichnen. Zudem hätten sie ein „Syndicat“ gegen den deutschen Gesang errichtet“.
Der Hallgartener Hobbyhistoriker Stefan Weser hat gründlich recherchiert, worum es bei dem Streit damals genau ging und dies auch in einem neuen Geschichtsheft des Vereines Weindorf Hallgarten veröffentlicht.
In seinem Vortrag ließ er den Hallgartener Pfarrer Heinrich Schott zu Wort kommen: „Er sei von höherer Behörde angewiesen worden, den deutschen Gesang einzuführen und bemühe sich seit mehr als einem Jahr, „meine Pfarrkinder dafür zu gewinnen“. Er meinte, auf einem guten Wege gewesen zu sein, insbesondere bei den Kindern“. Stefan Weser erläuterte, dass früher in den Gottesdiensten ausschließlich in lateinischer Sprache gesungen wurde: „Die Choralsänger, meist zwölf an der Zahl, unterstützten den Gottesdienst durch ihren lateinischen Gesang und auch die „normalen“ Gottesdienstbesucher hingen an den vertrauten Klängen, auch wenn sie meist nichts verstanden. Nun wollte der Erzbischof ein deutsches Gesangbuch einführen, womit der lateinische Chorgesang de facto abgeschafft gewesen wäre. Daher gärte es seit geraumer Zeit im Ort. Bei der Fronleichnamsprozession habe Franz Bechthold die Kinder aufgefordert, den Rosenkranz mehr zu schreien als zu beten, um den deutsch singenden Chor zu verwirren. Als er sein Ziel nicht erreicht sah, habe er die Kinder als „Säue“ bezeichnet und aufgefordert „statt des Gesangbuches ein Käsbrot in die Hand zu nehmen“. Auch die Bittprozession sei völlig aus dem Ruder gelaufen. Der Pfarrer entgegnete dem Franz Stettler, der trotzig meinte „wir singen, was wir wollen“, so könne es ihm auch einfallen, ein „unkeusches Lied “ zu singen. Letztlich verließ der Pfarrer samt seinem Anhang die Prozession vorzeitig“.
Dieses Desaster und andere „Liderlichkeiten“ seien schließlich über Monate in mindestens sechs Vernehmungsrunden aufgearbeitet worden: „Nahezu neunzig Namen werden in der Akte genannt!“, hatte der Referent herausgefunden und berichtete, dass auch Beleidigungen wie „Komm, Teufel, hol sie alle!“ gefallen sein sollen. „In Wirtshausgesprächen wurde angekündigt, den Pfarrer „mit dem Pflugssprendel tot zu schlagen““, berichtete Weser.
Er erzählte, dass Valentin Kempenich den Organisten angestiftet hatte, auf der Orgel „Spectacel“ zu machen und die Sänger aus dem deutschen Gesangbuch mutlos zu machen und dem Gelächter auszusetzen. „Die Charitas Hubert wurde angegangen, es schicke sich für sie nicht, Deutsch zu singen, da sie „mit dem Bettelbrod“ großgezogen worden sei. Einem zwölfjährigen Mädchen wurde das Gesangbuch aus der Hand geschlagen und in den „puddel“ geworfen. Bei einer Vernehmung in Eltville eskalierte die Situation soweit, dass Johann Besem und Peter Schneider zur Turmstrafe „condamnirt“, also verurteilt wurden und letzterer sogar mit Gewalt abgeführt werden musste“, erläuterte der Referent. Auch die Entstehung der „Schmähschrift“ sei damals lang und breit untersucht worden, denn hier sollten sogar Unterschriften gefälscht worden sein. „Der nassauische Untersuchungsbeamte Herber war zwischenzeitlich ziemlich ratlos, wenn er von seinen Problemen mit dieser „sehr eigensinnigen und hartköpfigen Gemeinde“ berichtete“, so Stefan Weser.
Franz Stettler und Jacob Söngen seien schließlich als die „vorzüglichsten“ Unruhestifter ermittelt worden und beide wurden zu einer dreiwöchige Arreststrafe verurteilt, Valentin Kempenich bekam eine Geldstrafe. „Alles andere ließ man aber unter den Tisch fallen und selbst die avisierten Strafen wurden doch nicht vollzogen. Nach einigen Wochen bekamen Stettler und Söngen lediglich einen Verweis und die Untersuchungskosten aufgebrummt. Das dürfte für sie noch das ärgerlichste an der Sache gewesen sein!“, so Stefan Weser. Ausführlich berichtet er in dem Hallgartener Geschichtsheft Nr. 29 „Als die Hallgartener sich weigerten, Deutsch zu singen – der Gesangbuchstreit von 1813/1814“, warum man sich damals so über den Gesang in der Kirche erregte und das damals die Kirche für die Menschen ein Stück Vertrautheit und Heimat war, was gerade in diesen einstigen unruhigen Zeiten Halt gab. Das Heft ist zum Preis von 3 Euro bei den Mitgliedern des Vorstands und in der Bäckerei Laquai in Hallgarten erhältlich.
Sabine Fladung